Was bleibt? - eine Shortstory ...

Manchmal kommen Ideen,die so schnell sie angeflogen kamen, auch auf dem Papier sind. Eine solche ist diese Story - ich hoffe, sie passt auch ganz hier drauf ... ich wünsche Freude beim Lesen ;-)



Was bleibt?
Sophie R. Nikolay


Es war bereits die vierte Woche, die Felix in diesem Bett lag. Seit er nach seinem Unfall aufgewacht war, und Stück für Stück erkannt hatte, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor, hasste er dieses Bett. Das Bett, das Zimmer, den Geruch um sich herum und die anderen Patienten, die kamen und gingen. Nur er blieb, unfähig aufzustehen.
Die Ärzte ließen ihn an einem Montag aus dem zweiwöchigen künstlichen Koma aufwachen. Der Blick aus dem Fenster seines Zimmers auf der Intensivstation hatte ihm einen trostlosen grauen Himmel gezeigt. Ebenso trostlos kam ihm das Leben vor, welches er vor sich hatte. Felix konnte sich noch an den Unfall erinnern, doch der Schock war groß gewesen, als er seine neue Situation erfasst hatte. Beide Beine waren mehrfach gebrochen und steckten auch nach Wochen noch in den Gipsschienen. Wozu die Ärzte sie überhaupt zusammengeflickt hatten, war Felix ein Rätsel. Er würde sie doch nicht mehr gebrauchen können …
Vom Lendenwirbel abwärts war er gelähmt und würde es sein Leben lang bleiben. Eine schöne Aussicht, wenn man wie er gerade zweiundzwanzig war.
Der Augenblick, als der Lastwagen auf ihn zugeschossen kam, außer Kontrolle und viel zu schnell, spulte sich immer wieder in seinem Kopf ab. Es war kalt gewesen, als Felix an diesem Morgen mit dem Rad zur Arbeit fuhr. Ausgestattet mit Reflektoren an der Kleidung und dem Rad war er bestens ausgerüstet gewesen, um auch in der dunklen Jahreszeit sicher durch die Stadt zu kommen. Gegen vereiste Fahrbahnen halfen die Leuchtstreifen allerdings nicht. Eigentlich war es ein Wunder, dass er noch lebte und den Zusammenstoß mit dem Führerhaus ohne schwere Kopfverletzungen überstanden hatte. Trotzdem fragte Felix sich täglich, was ihm lieber gewesen wäre. Leben oder Tod? Innerlich fühlte er sich, als sei er an diesem Morgen gestorben.

Die Schuld an dem Unfall gab er niemandem. Weder dem Fahrer des Lasters, noch sich selbst. Die ersten Tage nach dem Aufwachen war er wütend gewesen und die Frage, warum es ausgerechnet ihn erwischt hatte, war stetig präsent gewesen. Anschließend hatte ihn Traurigkeit gequält, wegen allem, was er nun aufgeben musste. Seinen Job als Elektriker, das Klettern und das Unterrichten von Kindern in dieser Sportart, seine Wohnung im dritten Stock und – was ihn am Meisten getroffen hatte – auf natürlichem Wege ein Kind zu zeugen. Sein Wunsch, später einmal eine Schar Kinder um sich herum zu haben, schien in unerreichbare Ferne gerückt. Was blieb, wäre eine künstliche Befruchtung - sollte er je eine Frau finden, die diese Art von Leben mit ihm teilen wollte. Sie müsste völlig anders sein als seine letzte Freundin … Jetzt wo er hier lag und so viel zeit zum Nachdenken hatte, fragte er sich, was er an Isabelle gefunden hatte. Sie war nicht mehr als eine hübsche Hülle gewesen. Ein oberflächlicher Mensch, mit kaum einer liebenswerten Charaktereigenschaft. Sie war das sexy Girl an seiner Seite gewesen – bis er ihr nicht mehr gut genug war. Zu wenig Publicity, obwohl er sportliche Erfolge feiern konnte. Doch Isabelle strebte nach mehr, vor allem nach mehr Aufmerksamkeit. Die bekam sie – nach seinem letzten Wissensstand – von dem neuen Mann an ihrer Seite. Oder besser durch ihn.
Felix war weder nachtragend noch verurteilte er sie wegen ihres Strebens nach mehr. Rein äußerlich hatten sie gut zusammen gepasst und dass es nicht für die Ewigkeit wäre, war ihnen beiden klar gewesen. Dennoch half ihm das nicht. Er fühlte sich einsam.

Felix verbrachte seine Tage mit Grübeln. Seine Eltern besuchten ihn nur am Wochenende, weil sie über einhundert Kilometer entfernt wohnten und beide ihrer Arbeit als Lehrer nachgingen. Mit seinen Zimmergenossen sprach er nicht viel, denn die meisten blieben bloß ein paar Tage, bis die nächsten kamen. Die Besuche von Freunden und Arbeitskollegen waren weniger geworden und er glaubte, je länger er hier liegen musste, umso seltener kämen sie vorbei.
Der Fernseher brachte ihm auch keine Abwechslung. Der eintönige Alltag wurde bestimmt von den Mahlzeiten, die kaum schmeckten, der Visite und der Körperpflege, bei der ihm ein Krankenpfleger half. Die Ärzte gaben sich Mühe, der Chirurg hatte sein Bestes gegeben und der Therapeut versuchte Felix Mut zu vermitteln, was ihm jedoch nicht gelang.
Felix fühlte sich, als wäre er in ein Loch gefallen und die glatten Wände verhinderten, dass er sich befreien konnte. Gefangen, als wäre er in einem Brunnenschacht eingesperrt, so kam er sich vor. Isoliert von allem. Das Leben zog an ihm vorbei, während er in diesem Bett lag. Sein Körper erschien ihm wie eine Gefängniszelle und ein Entkommen war unmöglich. Sein Leben lang würde sich nichts daran ändern …


Als die Tür aufging und das Geräusch verriet, dass erneut ein Bett ins Zimmer geschoben wurde, um die Lücke des am Morgen entlassenen Patienten zu füllen, sah Felix nicht hin. Er starrte an die weiße Decke, an der er inzwischen jeden noch so kleinen Fleck kannte. Er hörte, wie die Räder arretiert wurden und einen Augenblick später tauchte das Gesicht von Schwester Christel in seinem Blickfeld auf.
„Felix, dieses Mal loht es sich, mit deinem Bettnachbarn zu sprechen. Er wird eine Weile bleiben“, erklärte sie leise und verschwand.
Er mochte ihre mütterliche Art und belächelte jeden ihrer Versuche, ihn zu mehr Sozialverhalten zu überreden. Die letzten Wochen hatte er jedoch nicht mehr getan, als einige Worte mit den Männern zu wechseln, die mit ihm das Zimmer teilten. Auf Fragen hatte er nie geantwortet und so war jedem schnell klar gewesen, dass er kein Interesse an Unterhaltungen besaß. Aber er musste zugeben, dass Christel ihn neugierig gemacht hatte. Er drehte den Kopf und betrachtete den Neuankömmling.
Oberhalb des dicken Verbandes schaute ein blonder Schopf hervor, unterhalb ein blasses Gesicht, welches ahnen ließ, dass der junge Mann im gleichen Alter wie Felix sein könnte. Den einen Arm zierte bis zur Schulter ein Gips, am anderen war die Hand verbunden. Beide Beine steckten in Schienen bis zum Oberschenkel, so wie es auch bei Felix der Fall war. Er schien zu bemerken, dass er angesehen wurde, denn er drehte den Kopf.
„Was hat dich erwischt? Bei mir war es ein Lastwagen.“ Felix versuchte ein freundliches Lächeln zu zeigen. Er hoffte, es sah nicht gezwungen aus.
„Zwei Baseballschläger“, erwiderte der andere mit belegter Stimme.
„Ach du Scheiße!“ Felix war ehrlich entsetzt.
„Das habe ich auch gedacht, als sie mich vorgestern aufgeweckt haben.“
„Warum? Ich meine, was ist passiert?“
„Willst du das wirklich wissen? Ist eine längere Geschichte.“
„Macht nichts, ich glaube, wir beide haben Zeit. Ich bin übrigens Felix“, stellte er sich vor und stellte dabei fest, dass dies eine Premiere war. Bisher hatte er keinem anderen Patienten seinen Namen genannt.
„Dominik“, sagte sein Gegenüber, schloss kurz die Augen, atmete tief durch und begann zu erzählen.

Es war ein Samstag und er war mit ein paar Freunden unterwegs gewesen. Die Jungs der Clique seien, wie er selbst, alle schwul und Single. Als sie von einem Lokal in ein anderes weitergezogen sind, wurden zwei Kerle auf die Gruppe aufmerksam. Denen habe man angesehen, dass sie auf Ärger aus waren. Beleidigungen wären gefallen, doch die Truppe wäre unbeirrt weitergezogen.
Später, als Dominik mit der letzten Bahn nach Hause fahren wollte, waren ihm die beiden wieder über den Weg gelaufen. Sie hatten ihn geschubst, bespuckt und beschimpft.
‚So jemand wie du darf überhaupt nicht existieren, du bist doch krank und widerlich! Eine Tracht Prügel wird dir bestimmt den Kopf waschen!‘, hatte der eine gesagt und der andere hatte hämisch gelacht.
Dominik konnte weder entkommen, noch sich schützen, als die beiden ihn in eine Gasse schubsten. Woher sie plötzlich die Baseballschläger hatten, konnte er nicht erklären. Er wusste auch nicht mit Bestimmtheit zu sagen, wie viele Schläge und Tritte ihn trafen, ehe sie von ihm abließen und ihn wie ein Stück Abfall in der Gasse liegen ließen. Er war kaum bei Bewusstsein und unfähig gewesen, selbst den Notruf zu wählen.
Ein Mann, der auf dem Weg nach Hause fast über ihn gestolpert wäre, hat die Rettungskräfte verständigt. Davon bekam Dominik nur am Rande etwas mit.
„Ich weiß, dass ich diesem Mann mein Leben verdanke. Wäre er nicht … ich will gar nicht daran denken“, schloss er.
„Diese Typen haben dich einzig und allein aus dem Grund zusammengeschlagen, weil du schwul bist?“, fasste Felix kopfschüttelnd zusammen.
„Ich glaube, denen wäre jeder Grund recht gewesen. Wenn es in dieser Nacht nicht mich erwischt hätte, dann jemand anderen.“
„Hoffentlich werden sie geschnappt!“
„Viel Hoffnung haben mir die beiden Beamten nicht gemacht, die gestern hier gewesen sind. Und selbst wenn sie die zwei finden … die sahen nicht so aus, als könnte ich Schadensersatz von denen fordern.“
Dominik sah aus, als habe er alles verloren – so wie Felix.
„Wie schlimm sind deine Verletzungen?“
Dominik hob den Arm. „Den werde ich nicht mehr so bewegen können, wie vorher. Ein Trümmerbruch im Ellenbogen. Das rechte Knie wurde ebenfalls zertrümmert, was bedeutet, meine Karriere ist vorbei, ehe sie richtig begonnen hat. Das andere Bein wird wohl wieder werden, aber das ist kein Trost.“
„Was machst du denn beruflich? Wenn ich fragen darf.“
„Darfst du. Ich tanze seit zehn Jahren. Meine Eltern fanden das Anfangs nicht so toll, doch als sie von unterschiedlichen Leuten wieder und wieder gesagt bekamen, dass ich Talent besäße, ließen sie mich. Zwei Tage bevor mich die Schläger erwischt haben, bekam ich eine Anfrage. Ich hatte die Chance, mich einem neuen Ensemble anzuschließen – das kann ich jetzt vergessen. Mit einem verkrüppelten Knie kann ich nie wieder tanzen. Was ich stattdessen tun soll, weiß ich nicht.“
„Ich frage mich gerade, ob es Zufall ist, dass wir beide hier nebeneinander gelandet sind …“
„Warum? Wie war das mit dir und dem Lastwagen?“
„Es ist nicht ganz so dramatisch, wie bei dir. Bin mit dem Rad unter einen Laster gekommen, weil die Straße vereist war. Das Resultat ist allerdings, dass ich nie wieder laufen kann.“
Dominik deutete mit der verbundenen Hand auf Felix‘ Beine. Der aber schüttelte den Kopf.
„Die hätten sie gar nicht zusammenbauen müssen, sie sind nutzlos. Querschnittslähmung.“
„Verdammt, das tut mir leid.“
„Mir auch.“

Die kommenden Tage sprachen die beiden viel miteinander. Was Felix nie für möglich gehalten hätte, schaffte Dominik mit seiner unnachahmlichen Art auf spielend einfache Weise. Täglich wurde er zuversichtlicher, dass er sein Leben auch auf Rädern meistern könnte, wenn er sich nur bemühte und die Dinge so akzeptierte, wie sie waren. Auf der anderen Seite versuchte Felix Dominik davon zu überzeugen, dass er nicht leichtfertig aufgeben sollte. Auch wenn die Ärzte sich sicher waren, dass sein Knie nicht mehr wie vorher wäre, dürfte er nicht voreilig die Flinte ins Korn werfen. Nicht ehe er den Versuch wagte, ob er noch tanzen konnte.
Manchmal kam Dominik ihm vor, wie ein Engel. Als hätte man ihn geschickt, damit Felix sich nicht aufgab. Wäre da nicht die Tatsache, dass dieser Engel selbst gestürzt war und ein wenig Hilfe gut gebrauchen konnte …
Die Zeit, die sie miteinander verbrachten, veränderte sie beide auf gewisse Weise. Zu Anfang hatte Felix es nicht bemerkt, doch dann war da eine Situation gewesen, in der er vor seinem Unfall völlig anders reagiert hätte. Da er nicht alleine aufstehen konnte, richtete er sich im Bett auf und zog sich den Pullover über den Kopf. Am Morgen hatte er gefröstelt, doch die Sonne, die durch das Fenster hineinschien, sorgte für Wärme. Pulli und Shirt hatten sich statisch aufgeladen, weshalb sie aneinander hingen und er beides auszog. Es knisterte, als er die Textilien voneinander trennte.
„Wirklich schade, dass du nicht so tickst, wie ich“, hörte er Dominik sagen.
Felix sah ihn an. Dominiks Blicke auf seinem nackten Oberkörper, der leichte Glanz in dessen Augen und das verlegene Lächeln auf seinen Lippen machten Felix deutlich, was er zuvor verdrängt hatte. Sein Zimmernachbar stand auf Kerle und er sah in mit Interesse an, nicht wie ein Kumpel. Erstaunlicherweise störte es ihn nicht. Dabei wusste er selbst nur zu gut, dass er sich vor dem Unfall angewidert weggedreht hätte.
„Selbst wenn. Es ist in jeder Hinsicht uninteressant. Ich spüre meine untere Hälfte nicht mal.“
„Du willst jetzt nicht versuchen dir einzureden, dass du für eine Partnerschaft ungeeignet bist, nur weil …“
„Hör auf. Was habe ich denn noch zu bieten, außer Kinder im Reagenzglas zu zeugen?“
„Zu einer Beziehung gehört so viel mehr als Sex“, hielt Dominik dagegen.
„Aber ohne ist es keine. Rein platonisch funktioniert es nicht.“
„Zieh keine voreiligen Schlüsse. Da draußen gibt es jemanden, der dich um deiner selbst Willen liebt, nicht wegen deiner körperlichen Vorzüge.“
Felix konnte ein Lachen nicht unterdrücken. „Wenn du es sagst!“
„Was soll das heißen? Glaubst du, nur weil ich schwul bin, habe ich keine Ahnung davon?“
„Nein. Nur die Vorstellung ist etwas komisch. Was du gesagt hast, klang so, als ob du mit Sicherheit wüsstest, dass da draußen jemand auf mich wartet.“
„Warum auch nicht? Sag niemals nie!“
„Toller Slogan. Ich werde nie wieder laufen, schon vergessen?“
„Nein. Aber sieh es doch ausnahmsweise optimistisch. Hattest du nicht zu mir gesagt, das Glas ist immer halb voll und nicht halb leer?“
Auf diesen Spruch hin musste Felix sich geschlagen geben. Dominik hatte Recht. Er hatte Felix mit seiner eigenen Waffe geschlagen!

Tage und Wochen vergingen, in denen Felix seine Gipsschienen loswurde und sich an den Rollstuhl gewöhnte. Seine Armmuskulatur hatte zwar unter der langen Bettruhe gelitten, doch die baute sich rasch wieder auf. Zumindest so weit, dass er auf dem Krankenhausflur kleine Rennen mit seinem Therapeuten veranstaltete.
An Dominiks großem Tag, als auch er seine Schienen abgenommen bekam, begleitete Felix ihn. Die gemeinsame Zeit im Krankenzimmer hatte sie zu Freunden werden lassen, obgleich sie sich im normalen Leben vermutlich nie über den Weg gelaufen wären. Sich gegenseitig zu stützen und sich mit den richtigen Worten Kraft zu geben, schweißte die beiden innerhalb von Wochen zusammen. Dominik strahlte, als der Physiotherapeut ihm schließlich viel mehr Mut machte, als die Ärzte es je gewagt hätten.


Ein Jahr später rollte Felix mit seinem Rollstuhl durch den Mittelgang, als habe er nie etwas anderes getan. Ein Platz in der ersten Reihe war für ihn reserviert worden und der Stuhl fehlte wie selbstverständlich. Dies war das dritte Mal, dass er hier war und seinem Freund zusah. Felix hatte ebenso recht behalten wie Dominik. Er selbst kam mit seinem neuen Leben auf Rädern sehr gut zurecht und Dominik tanzte wieder.
Während Felix dort saß und sich der Saal füllte, dachte er daran, wie wichtig es für sie beide gewesen war, dass sie im selben Krankenzimmer gelandet waren. Er als Sportler, der manches Mal zu viel Wert auf Oberflächlichkeiten gelegt hatte, nannte nun einen schwulen Mann als seinen besten Freund. Vor dem Unfall wäre das für ihn undenkbar gewesen. In Dominik hatte er einen Freund gefunden, dem er ebenso viel zu verdanken hatte, wie dieser ihm. Als Dominik schließlich mit dem Ensemble auf die Bühne trat, lächelte Felix.
Der Grund dafür war nicht nur Dominik. Dessen Kollegin, Anette, hatte es Felix angetan. Sie war wunderschön und bewegte sich geschmeidig wie eine Katze. Er machte sich keine Hoffnungen, dass sie wohlmöglich Gefallen an ihm finden könnte. Felix genoss es einfach, ihr zuzusehen.

Die Show war perfekt, fehlerfrei und ließ die Zuschauer begeistert applaudieren. Die Mischung aus Tanz, Akrobatik und bewegter Erzählung erinnerte an ein Musical. Mit dem Unterschied, dass hier keiner zur Musik sang.
Sobald die Leute in Richtung Ausgang strömten, machte Felix sich auf den Weg zu den Garderoben. Kaum dort angelangt, wurde er Zeuge, als Dominik seinem Tanzpartner Danny neckend auf den Hintern schlug. Der reagierte anders, als Felix es erwartet hätte. Keine Entrüstung, kein schiefer Blick. Stattdessen zog er ihn am Nacken zu sich und küsste ihn mitten auf den Mund.
Felix legte den Kopf schräg und ärgerte sich insgeheim, dass Dominik ihm nichts erzählt hatte. Er rollte dicht hinter ihn.
„Mir scheint, Tanzen weckt tatsächlich Leidenschaft“, sagte er schmunzelnd.
„Oh, Hey Felix.“, erwiderte Dominik fröhlich und setzte sich bei ihm auf den Schoß. Anschließend küsste er ihm beide Wangen.
„Kannst froh sein, dass ich nicht merke, wie schwer du bist.“
„Ich bin nicht schwer! Und, wie fandest du uns?“
Felix sah in die Runde der versammelten Tänzer. „Naja, wenn du so fragst“, er setzte eine kritische Miene auf, was bei Dominik leichtes Entsetzen hervorrief. „Ihr seid alle super gewesen!“, schloss er und grinste.
„Das war fies!“ Dominik boxte ihm leicht gegen die Schulter, dann beugte er sich nah an Felix‘ Ohr. „Ich kann auch gemein sein, denn ich weiß was, was du nicht weißt“, raunte er.
„Ach ja?“
Dominik nickte und sprang auf. Ohne ein weiteres Wort der Erklärung trat er an seinen Garderobenständer und zog sich um. Felix nahm sich ein Sektglas vom Tablett, welches auf dem Schminktisch stand und wartete. Inzwischen waren alle Tänzer dabei, sich aus ihrer Montur zu schälen und Felix sah pflichtbewusst auf seine Füße. Er wollte nicht, dass die Tänzerinnen ihm vorwerfen konnten, er wäre ein Spanner. So bemerkte er auch nicht, dass Anette sich zu ihm gesellte.
„Darf ich dich etwas fragen?“
Felix zuckte überrascht zusammen und schaute auf. Plötzlich fehlten ihm die Worte und er nickte bloß.
„Fällt es dir nicht schwer uns beim Auftritt zuzusehen, während du nicht einmal die Füße bewegen kannst?“
Felix überlegte kurz. „Nein. Im Gegenteil. Ich sehe euch gerne zu und ich bin stolz auf Dominik, dass er es zurück auf die Bühne geschafft hat.“
Anette lächelte, dann hockte sie sich neben seinen Rollstuhl.
„Ich finde, du bist ein guter Freund und bevor du jetzt auch nur den kleinsten Einwand bringen kannst – ich kenne die Geschichte, wie ihr euch kennengelernt habt. Dom hat es mir erzählt.“
„Äh, okay. Danke“, stammelte er. Du lieber Himmel! Sonst war er doch auch nicht schüchtern. Aber bei ihr war alles anders.
Anette streckte ihre Hand aus und strich Felix durchs Haar.
„Hast du geglaubt, ich könnte nicht sehen, dass du nicht ihm beim Tanzen zusiehst, sondern mir?“, fragte sie sanft.
Felix konnte es nicht verhindern, ihm schoss das Blut in den Kopf und er war sicherlich so rot wie eine Tomate. Sie hatte ihn erwischt.
„Stört es dich?“, erwiderte er, obwohl ihm ein Kloß in der Größe eines Medizinballs im Hals zu hängen schien.
„Nein. Warum sollte es?“
Felix zuckte nur mit den Schultern.
„Nach dem Auftritt habe ich immer Hunger wie ein Bär. Was hältst du davon, wenn wir noch was essen gehen?“
Felix blinzelte und sah sich um, doch niemand sonst kümmerte sich um sie. Es herrschte reges Treiben.
„Wer, wir? Nur wir beide oder die ganze Truppe?“
„Wir beide.“

Zehn Minuten später verließen sie das Gebäude. Felix war hin- und hergerissen. Seine Behinderung war nur allzu deutlich und trotzdem wollte Anette - diese junge, schöne Tänzerin - mit ihm ausgehen. Okay, es war bloß ein Essen, aber Felix hegte die leise Hoffnung, dass das erst der Anfang wäre …

(c) 3/2013 Sophie R. Nikolay
Alle Rechte liegen bei der Autorin!

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